by MrAlchemize
Ich fuhr gerade auf die Schnellstraße, als ich mich fragte, was ich hier überhaupt tat. Ich war auf dem Weg zu meiner Kollegin, um sie abzuholen und danach gen Frankreich zu fahren, um – und jetzt wird’s interessant – eine Oper zu besuchen. Ja, ganz recht, eine richtige Oper! Wir reden hier übrigens nicht über eine 08/15-Oper von Richard Wagner oder … äh … Giuseppe Verdi; nein Sir, wir reden hier von einem richtig obskuren Stück aus dem Barock. Den ganz harten Scheiß! Selbst Leute, die in klassischer Musik bewandert sind, sehen mich an, als ob sie sagen möchten: „Okay, ich weiß jetzt nicht, ob du dir das ausgedacht hast, aber ich will mir auch nicht die Blöße geben, zugeben zu müssen, dass du Bauernlümmel etwas kennst, von dem ich nie gehört habe.“
Wie es zu diesem „Ereignis“ kam? Ich habe nicht den leisesten Schimmer. Höre ich gerne Oper? Nicht das ich wüsste! Das höchste der Gefühle sind Werke von Modest Mussorgski oder vom guten alten Ludwig van Beethoven – und nun war ich auf dem Weg, eine waschechte Oper (ich werde nicht müde, das zu schreiben) von Leonardo Vinci zu sehen bzw. hören bzw. zu erleben. Nein, es handelt sich hierbei NICHT um den Erfinder und Künstler (Mona Lisa und so…) Leonardo DA Vinci, sondern um einen Komponisten, der ca. 200 Jahre später starb und interessanterweise auch 200 Jahre später geboren wurde.
Ich fuhr also nach Stuttgart, um meine Kollegin abzuholen, um danach in Richtung Grenze weiterzufahren. Schon dieser Abschnitt zog sich wie Kaugummi. Warum gibt es immer einen Seat oder von mir aus auch einen Renault, der mitten im Tunnel seinen Geist aufgibt? Ich meine es ernst! Ich bin in den letzten Monaten immer an derselben Stelle an einem Seat oder eben Renault vorbeigezuckelt, der in irgendeiner Form schlapp gemacht hat! Schlechtes Karma? Falsches Auto? Eine höhere Macht? Ich habe keine Ahnung.
Flugs das Gepäck und die Kollegin verstaut und weiter ging’s. Die Fahrt zur Grenze war zwar nicht staulastig, aber anstrengend. Deutsche Autofahrer, um es zu präzisieren, badische Autofahrer sind… schwierig. Unerwartete Bremsmanöver, Spurwechsel oder auch eine interessante Neu-Definition von „Geradeausfahren“ machten es nicht einfacher. Erst als wir die Grenze passierten, war es wie ausgewechselt. Leere Straßen und vernünftige, relaxte Autofahrer prägten das Bild auf der französischen Autobahn.
Okay, jetzt wird es Zeit, eine Lobeshymne zu schreiben.
Ich bin noch nie, noch gar gar nie nicht, so entspannt Auto gefahren wie auf der französischen Autobahn. Man hat sein vorgegebenes Tempo – entweder 110 oder 130 km/h – und damit juck. Ein stilvolles Dahincruisen. Ab und zu überholte man einen LKW oder einen altersschwachen Peugeot. Mehr war nicht. Und die Landschaft, ach mein Gott, war die Landschaft schön!
Nach etwa zwei Stunden Fahrt hüngerte es uns ein wenig, also rasteten wir an einer Raststätte. Die Stärkung bestand aus einem mittelmäßigen Baguette und einem Energy-Drink, der aufgrund des fehlenden Dosenpfands so spottbillig war, das ich mich schon fast schämte, aber auch nur fast. Die letzten zwei Stunden vergingen wie im Fluge und schon waren wir in Nancy, oder wie es früher genannt wurde, Nanzig. (Kein Witz!) Ab jetzt wurde es ein wenig haarig, denn das Navigationsgerät kannte nur die größten bzw. „wichtigsten“ Straßen. Interessanter Weise sind die Straßen, die man braucht, nie eingetragen, was die Sache mit den „wichtigsten“ Straßen in einem völlig anderen Licht erscheinen lässt.
Aber ich schweife ab …
So entspannt die bisherige Fahrt war, die Suche nach dem Hotel wog das meiste wieder auf. Wir hatten beide keine Ahnung, wo es lang ging, also fuhren wir frei Schnauze. Dies brachte uns in die schmucke Stadtmitte von Nancy, die um diese Uhrzeit verstopft war. Da waren wir nun und mir wurde klar, dass die halbe Schachtel Zigaretten, die ich noch besaß, ziemlich schnell leer sein würde. In einem weniger spektakulären, jedoch wagemutigen Manöver schaffte ich es, direkt vor dem Sitz der französchischen Nationalpolizei auf den Straßenbahngleisen zu fahren. Wäre Fortuna zu diesem Zeitpunkt abwesend gewesen, hätte ich wohl eine nicht unbeträchtliche Geldsumme zahlen müssen.
In den letzten 60 Minuten dieser Erkundungstour versuchten wir verkehrsgerecht zu unserem Hotel zu finden. Dies gelang uns auch, allerdings war die Straßenführung so… ich nenne es jetzt mal „undurchsichtig“, dass wir mehrere Male daran vorbeifuhren. Schließlich fanden wir doch die Einfahrt in die hoteleigene Tiefgarage.
An dieser Stelle muss ich erwähnen, dass ich einen Mercedes fahre. Einer von den guten, um genau zu sein, eine E-Klasse, Baujahr 1989. Mit über 600.000 km. Ein Schlachtschiff also. Nun war die Einfahrt zur Tiefgarage anscheinend nur für Peugeots oder Citroens ausgelegt. Mir blieben also nur wenige Zentimeter Spielraum, in denen ich versuchte, meinen fahrbaren Untersatz ohne einen Kratzer in dieses Scheißloch von Tiefgarage zu manövrieren. Mit Zuhilfenahme von diversen Kraftausdrücken und dem Konsum von mehreren Zigaretten sowie dem übermäßigen Absondern von Schweiß schaffte ich es doch.
Das Hotel an sich war in Ordnung. Es handelte sich um ein Hotel der Ibis-Kette, und wer schon mal zwei Hotels dieser Sorte besucht hat, weiß, dass sie im Prinzip alle gleich sind. Also hieß es Check-In und ab in die Zimmer.
Ich weiß ja nicht, wie es bei euch ist, aber bei mir läuft der Einzug in ein Hotelzimmer immer gleich ab:
- Ich betrete das Zimmer,
- schmeiß’ meine Tasche auf’s Bett,
- schau’ mir das Bad an,
- lege mich ins Bett
- und schalte die Glotze an.
Zu meiner Überraschung musste ich feststellen, dass es in Frankreich erschreckend viele französischsprachige Fernsehsender gibt. Da ich der Sprache nur bedingt mächtig bin, freute es mich umso mehr, das ZDF zu empfangen.
Nach ungefähr fünf Minuten beschloss ich, meine Sprachkenntnisse doch auszuprobieren und gönnte mir an der Hotelbar einen Kaffee. Interessant hierbei ist, dass man fast immer einen Espresso bekommt, nie eine gute heiße Tasse rotznormalen Kaffee.
Meine beschränkten Sprachkenntnisse durfte ich kurze Zeit später nochmals unter Beweis stellen, als ich mit meiner Kollegin Zigaretten holen ging.
Ich betrat den Kiosk. Es wurde mir ein wenig schwindelig, als ich realisierte, dass ich gleich einen französischen Kioskverkäufer in seiner Muttersprache ansprechen würde. Jede Faser meines Körpers zog sich zusammen. Mein Mund wurde trocken. Was würde ich sagen? Wie würde er reagieren? Konnte er womöglich genauso gut Französisch wie ich? Ich fing an zu schwitzen und versuchte mich zu konzentrieren. Nur noch zwei Kunden waren vor mir an der Reihe und verzweifelt suchte ich etwas, dass mir emotionalen Halt geben würde. Mein Blick schweifte umher und fiel schließlich auf eine Packung Haribo Goldbären. Ich fühlte, wie mir ein angenehmer Schauer über den Rücken lief. Ich hatte etwas gefunden, das ich kannte und liebte. Es war nur noch eine Kundin vor mir und ich begann, mich ein wenig zu entspannen. Die Stimmen rückten in weite Ferne und verschwammen in einem Klangbrei. In diesem Moment völliger Entspannung überließ ich das nachfolgende Handeln einem Alter Ego, das ich vor Jahren für einen Sketch erschuf. Mit gekonnt lässigem Phrasen bestellte ich die Zigaretten für mich und meine Kollegin. Bis mich der Preis unsanft wieder in mein normales Ich riss. SECHS EURO UND ZEHN CENT FÜR EINE SCHACHTEL ZIGARETTEN!!! Gott sei Dank waren die Formalitäten schon geklärt, so dass ich nur noch bezahlen musste. Benommen vom Schock machten wir uns wieder auf zum Hotel.
Zurück in der Hotelbar nahmen wir Kontakt auf zur Organisatorin dieses Stunts. Biri, eine Freundin meiner Kollegin, hatte die Karten und das Hotel gebucht. Da sie schon früher angekommen war, nahm sie sich die Zeit für einen kleinen Stadtbummel. Da wir aber noch etwas geschlaucht von der Hinfahrt waren, warteten wir im Hotel auf sie. Nach zwei Kaffees, also ungefähr zehn Minuten, fiel mir eine Person auf, die nicht so recht zu den restlichen Passanten passte und siehe da, es war unsere „Kontaktperson“.
Nach einer herzlichen Begrüßung beschlossen wir, noch eine Stunde Pause zu machen, um dann Vorbereitungen (Dusche, Umziehen, etc.) für den abendlichen Event und dem eigentlichen Grund für diese Reise zu treffen.
Da ich noch nie bewusst und im vollen Besitz meiner geistigen Fähigkeiten eine Oper besuchte, gestaltete sich die Wahl der Garderobe etwas schwierig. Ich beschloss, die bewährte Mischung aus Sakko, Stoffhose und Hemd einzupacken, da man damit einfach nie falsch liegen kann. Da ich schon des Öfteren darauf aufmerksam gemacht wurde, dass meine Wahl der Garderobe etwas zu konservativ ausfällt, beschloss ich, ein fliederfarbenes Hemd mit dazu passendem Schal anzuziehen. Frisch geduscht und eingekleidet ging es zur Opéra National de Lorraine.
Dort angekommen wurde man erschlagen vom Prunk und Kitsch. Ich habe selten so viele goldene Statuen, mit Gold verzierte Zäune und einen solchen Protzbau gesehen.
Die Karten wurden abgeholt und verteilt. Kurz darauf lernte ich noch ein weiteres Mitglied in dieser Ansammlung von Freaks kennen. (Ich weiß wovon ich rede!). Diese war sichtlich verwirrt, einen Mann in dieser illustren Ansammlung von Individuen anzutreffen und löcherte mich mit Fragen. Wo ich herkommen würde, in welcher Beziehung ich zu meinen Begleiterinnen stehen würde, etc.. Da ich absolut keine Lust hatte, mich zu erklären, fielen meine Antworten spärlich aus. Ich musste später feststellen, dass dieser Plan nach hinten losging, doch dazu später mehr.
Der Einlass begann und wir machten uns auf den Weg zu unseren Plätzen. Im Saal selbst war es genau so ekelerregend kitschig und prunkvoll (oder doch prunkvoll und kitschig?) wie das Gebäude selbst. Ich habe auch gelernt, warum es in der Oper in Nancy keine Treppen im Saal gibt – nämlich weil diese zu viel Schall schlucken, deshalb gibt es nur Rampen. Tjahaha, man lernt auch was bei der Sache.
Unsere Plätze waren vom Feinsten. Erste Reihe – noch näher an der Bühne ging es nicht – außer wir wären Orchester-Mitglieder gewesen, aber da wäre die Sicht einfach nur bescheiden gewesen. Biri hat sogar ganz bequem mit einem Bratschisten (Wikipedia bildet!) plaudern können, so nah waren wir dran. Oder anders gesagt: Wir hätten den Gitarristen am Bart kraulen können, wenn wir darauf Wert gelegt hätten. Ich musste mich zurückhalten…
Die Oper selbst hatte drei Akte, diese wurden schon optisch durch die Kleidung der Protagonisten abgegrenzt. Wurden im ersten Akt noch punkige Lack- und Lederkluften getragen, so zeichnete sich der 2. Akt mehr durch weiße Barockroben aus. Im dritten Akt wurde dann ein 70er-Jahre Abba-Revival gefeiert.
Ich muss schon sagen, dass mir die Kostüme im ersten Akt am besten gefielen. Der Grund hierfür ist fast schon trivial: Es erinnerte mich fast alles an Klaus Nomi. Kostüme und Make-up – einfach alles. Von meiner Seite aus gab das einen fetten Pluspunkt.
Aber das ist ja auch egal. Die Musik an sich war klasse. Wer Rondo Venenziano (wahre Klassik-Freunde werden jetzt zwar ausspucken, aber wenn kümmert’s?!) mag, mochte auch die Musik. Der Gesang ist schlicht und ergreifend Geschmackssache – mir gefiel es (KLAUS NOMI!!!!). Verwirrend war nur, das die Damen-Rollen auch von Männern gespielt bzw. gesungen wurden. Hätte ich es nicht GANZ genau gewusst… ich sag’s mal so: Semira wäre fällig gewesen.
Der erste Akt war vorbei.
Ach übrigens, falls ihr euch wundert, dass an dieser Stelle noch nichts über die Story gesagt wurde: Die war mir zu diesem Zeitpunkt auch nicht bekannt. Ich saß nur da und lauschte der Musik und starrte fassungslos auf die Bühne. Zu surreal war das, was auf der Bühne und im Orchestergraben vor sich ging. Männer, die in höchsten Tönen (kein Wortspiel beabsichtigt) auf italienisch eine Story vortrugen und dabei noch schauspielern. Für einen Rock- bzw. Metal-Fan ist das… fordernd.
Während der Pause sprach mich wieder eine dieser komischen Wesen an und löcherte mich mit Fragen über das Stück, Privatsachen und Triviales. Die Kreatur war jetzt der Meinung, dass meine Kollegin und ich ein Paar seinen – was im übrigen nicht der Wahrheit entspricht, aber egal. Ich versuchte die ganze Pause über, ihr zu erklären, dass wir nur Kollegen seien, dass meine Kollegin Mann und Kind zu Hause hat und ich wirklich nur ein guter Bekannter sei, der auch nicht wüsste, warum er sich diese Oper ansieht. Nachdem sie es am Ende der Pause immer noch nicht verstanden hatte, sagte ich ihr einfach, dass ich der schwule Cousin meiner Kollegin sei. Das ließ sie dann gelten (Sorry Fritzi).
Beim zweiten Akt ergab alles mehr Sinn. Die einzelnen Story-Fragmente, die ich in meinem Kopf zusammensetzen konnte, ergaben eine interessante Geschichte aus Lug, Trug, Hass und Leidenschaft. Das Blöde an der Sache war allerdings, dass ich einige Sachen falsch interpretiert habe und somit meine Story doch sehr stark von der eigentlichen Geschichte abweicht. Im Nachhinein muss ich sagen, dass mir meine Geschichte besser gefallen hat.
Hier nun meine Zusammenfassung der Oper Artaserse:
Am Anfang haben wir Topfmütze (Arsace), der voll gut drauf ist. Plötzlich kommt sein Vater Hörnchenmann (Artabano) mit einem blutigen Schwert und sagt seinem Sohn, dass er gerade den König abgemurkst hat. Topfmütze findet das gar nicht witzig und versteckt das blutige Schwert.
Der Prinz (Artaserse) findet das gar nicht cool, dass sein Papa tot ist und lässt Hörnchenmann antraben, um den Mörder zu suchen. (Ihr merkt, das wird jetzt schon ein wenig komplizierter.) Der meint, dass eventuell der Bruder von Artaserse den König umgelegt haben könnte; in tiefer Trauer lässt Artaserse seinen Bruder umbringen, logisch oder?
Dann haben wir noch ein bisschen Beziehungs-Schach, der auch nicht ohne ist, denn: Artaserse ist mit der Schwester von Topfmützchen liiert, dieser wiederum pimpert die Schwester von Artaserse. Ihr denkt, das sei kompliziert? Haha, jetzt wird’s erst richtig witzig:
Das blutige Schwert wird bei Topfmützchen gefunden, Artaserse ist jetzt richtig traurig – sein bester Freund hat seinen Papa umgelegt? Tja scheiße, Topfmütze wird vorerst in den Kerker gesperrt, wo er auf seine Hinrichtung warten darf. Er plädiert – völlig zurecht – darauf, dass er unschuldig ist.
In einer unruhigen Nacht grübelt Artaserse, während er sich in seinem Bett räkelt (Sick, wa?), wie er nun weiter verfahren soll. Er entschließt sich dazu, Topfmütze entkommen zu lassen.
Dieser versucht jetzt, alle zu überzeugen, dass er unschuldig ist, wird aber von allen abgewiesen. Dann geht er zu seinem Vater Hörnchenmann – der will davon auch nichts wissen. Doch in Hörnchenmanns Hirnkasten rattert es gewaltig, weil er dann auch noch den Perser (Megabise) mit ins Boot holt. Der ist wiederum schon seit Langem in die Ische von Artaserse bzw. in die Tochter von Hörnchenmann bzw. in die Schwester von Topfmütze (Semira) verknallt.
Also ersinnt Hörnchenmann folgendes Komplott: Er bringt jetzt noch irgendwie Artaserse um die Ecke, dann können er und sein Sohn Topfmütze, sofern er überlebt, das Königreich übernehmen. Megabise bekommt die Schwester und damit sind alle fein raus.
So, nun rechnet aber keiner damit, dass Topfmütze Artaserse davon überzeugen konnte, dass er wirklich nicht den Papa, also den König abgemurkst hat. Währenddessen brauen Perser und Hörnchenmann einen vergifteten Cocktail zusammen, den sie Artaserse reichen wollen.
Es kommt wie es kommen muss, Artaserse bietet Topfmütze, in Anwesenheit von allen anderen, das Getränk an. Hörnchenmann rafft sich und verhindert gerade noch, dass sein Sprössling ins Gras beißt. Da nun alles egal ist, versucht Hörnchenmann Artaserse mit seinem Schwert abzustechen. Töchterchen und Topfmütze können es ihrem Vater gerade noch mal ausreden, noch einen Mord zu begehen.
Alles klärt sich auf, alle vertragen sich, Artaserse wird zum König gekrönt, Hörnchenmann kommt ins Exil, alle sind glücklich, ENDE.
Das ist doch richtig komplizierter Scheißdreck, oder? Die Komponisten von damals hatten es echt drauf, komplizierte Sachverhalte noch unverständlicher in einer Oper umzusetzen.
So manchem stellt sich jetzt wie bei mir folgende Frage: „Okay, seinen besten Kumpel und den eigentlichen Mörder seines Vaters lässt er laufen, aber seinen Bruder lässt er umbringen?“
Denkt noch mal nach, ihr seid auf dem richtigen Weg.
„Hey Topfmütze, ich weiß, wir sind beste Freunde und ich pimpere deine Schwester, aber es sieht leider so aus, dass du meinen Vadder umgelegt hättest. Weil wir aber die besten Freunde sind und ich deine Schwester pimpere, lasse ich dich zuerst in den Kerker sperren, bevor ich dich hinrichten lasse und ach übrigens keine Angst, ich lass dich aus dem Kerker entkommen. Tschüsili!“
oder:
„Hey Hörnchenmann, ich weiß, dein Sohn ist mein bester Kumpel und ich pimpere deine Tochter, aber leider hast du meinen Papi umgebracht, wolltest mich vergiften und danach noch erstechen, aber weißt du was? Ich habe heute einen echt guten Tag: Ich lasse dich ins Exil verbannen. Tschüsili!“
aber:
„Herr Prinz, es sieht so aus, als ob Euer Bruder euren Vater um die Ecke gebracht hätte.“
„Tötet ihn.“
Ich meine: WAS ZUM GEIER?! Blut ist dicker als Wasser – AM ARSCH! Der hat seinen Bruder umgelegt! Kein Wort des Bedauerns? Kein „Ups, da habe ich wohl ein bisschen vorschnell gehandelt.“ NICHTS. Wahrscheinlich ist nicht Hörnchenmann der Bösewicht, sondern Artaserse! Er wollte Thronfolger werden und ließ Hörnchenmann nur die Drecksarbeit machen. Hörnchenmann denkt zwar, er schadet Artaserse, dabei hat dieser nur darauf gewartet, dass er seinen Bruder umlegen kann. Schon mal daran gedacht, meine lieben Klassik-Freunde?
Nein, natürlich nicht, Artaserse ist doch der Held, der Gute. Meinetwegen, ich finde, dass Artaserse ein Arschloch ist. Bevor ich Morddrohungen bekomme, möchte ich noch mal explizit darauf hinweisen, dass ich die Figur Artaserse als Arschloch bezeichnet habe und nicht, ich betone NICHT die Sänger/Schauspieler. Die waren famos! Sowohl stimmlich, als auch schauspielerisch.
Ich bin seit diesem Zeitpunkt auch Fan von Juan Sancho. Er spielte Hörnchenmann in dieser Inszenierung und hat es echt drauf, böse zu gucken. Da wir in der ersten Reihe saßen, kam es manchmal vor, dass er mir direkt in die Augen sah. Wenn das passierte, lief mir ein eiskalter Schauer über den Rücken. Ich bin gerade dabei, mir ein Autogramm von Herrn Sancho zu organisieren. Also ja, Juan Sancho hat mich tief beeindruckt.
In Ordnung, ich versuche schon gar nicht mehr, die Aufführung chronologisch wiederzugeben, deshalb kommt noch eine Anekdote und dann können wir wieder zeitlich ein wenig Ordnung in die Sache bringen. Seid ihr damit einverstanden? Nicht, dass es mich interessieren würde, aber ich wollte wenigstens gefragt haben.
Also, wo war ich…
Der zweite Akt war vorbei und ich machte mich bereit, zu gehen, schließlich war es zu diesem Zeitpunkt schon 23:00 Uhr. Als ich in Richtung Garderobe abbiegen wollte, sahen mich meine Begleiterinnen fragend an. Ich erklärte mein Vorhaben und erntete schallendes Gelächter. Mir wurde erläutert, dass die Oper drei Akte habe und dass die Spielzeit auf alle Fälle noch 60 Minuten betragen würde.
Ihr könnt euch vorstellen, dass das neu für mich war. Die durchschnittliche Dauer eines normalen Rockkonzertes beträgt 100 Minuten.
Die Aufführung war zu Ende und ich wartete ein paar Minuten, nur um sicher zu gehen. Als ich absolut sicher sein konnte, dass es wirklich zu Ende war, entspannte ich mich ein wenig. Ich hatte somit meine erste „aus-freien-Stücken-angesehene“ Oper bewältigt. Es war einfacher als gedacht. Ich sollte hierbei erwähnen, das ich ein Musik-Freak bin und der absoluten Überzeugung bin, dass in jedem musikalischen Genre ein Lied bzw. Stück existiert, das einem gefällt. Dabei spielt es keine Rolle, welche musikalischen Präferenzen das Subjekt hat. Aber dazu ein andermal mehr.
Meine Begleiterinnen wollten unbedingt noch den Star des Abends (nein, nicht Juan Sancho) Philippe Jaroussky treffen. Da ich mir auch auf so mancher Konzert-Location die Beine in den Bauch gestanden hatte, nur um ein Autogramm abzugreifen oder mit den Musikern zu quatschen, hatte ich absolut nichts dagegen. Wer weiß, vielleicht hätte sich auch noch ein Gespräch mit Juan Sancho ergeben…
Leider mussten wir uns nach den ersten 90 Minuten eingestehen, dass wir einen fatalen Fehler gemacht hatten. Es war Premieren-Abend und was macht man nach so einer Premiere? Man lässt nach der Aufführung die Korken knallen und feiert ein wenig. Meinen Begleiterinnen war das egal, sie hatten sogar kleine Geschenke für Herrn Jaroussky dabei. Ich hatte noch Zigaretten, war also noch glücklich, jedoch begann es ungemütlich zu werden. Der Regen setzte uns zu und der Wind tat sein übriges. Scheiß drauf, nur die Harten kommen in den Garten, also weiter ausharren, rauchen und Stuss labern. Das sage ich jetzt nicht so daher – was ich für eine Scheiße gelabert habe! Im Nachhinein schäme ich mich ja fast dafür – aber eben nur fast.
Wir vertrieben uns die Zeit damit, zu jedem Buchstaben im Alphabet eine bekannte Pop- bzw. Rocknummer zu schmettern – die Straße war leer, die Chance, dass uns jemand hörte, gering. Wieder einmal erntete ich Verblüffung. Was schmettert man in einer verregneten Nacht in Nancy, wenn man eine gebürtige Schweizerin dabei hat? RUMPELSTILZ!!!!
LEUTE BIN ICH DENN EIN KIOSK, ODER BIN ICH ETWA ’NE BANK, ODER SEH’ ICH ’US WIE A HOTEL, ODER WIE EIN KASSENSCHRANK … etc.
Das war erst der Anfang. Kennt irgendjemand von euch Urs Leimgruber, oder die Minstrels? Grüetzi wohl, Frau Stirnima.
Ich sah Biri die Schamesröte ins Gesicht steigen und damit war ich besänftigt.
Etwas ging im Gebäude vor sich. Plötzlich hörte man mehrere Stimmen und Schritte. Monsieur Jaroussky zeigte sich mit einem riesigen Blumenstrauß und einem riesigen Lebkuchenherz … ho, ho, ho, ho, immer langsam … einem Lebkuchenherzen?! Okay, einen Blumenstrauß sehe ich ja noch irgendwie ein, aber was zum Geier soll dieser Mann mit einem riesigen Lebkuchenherzen? Hätte es nicht auch ein kleines getan, das wäre handlicher gewesen, aber nein, ein riesiger Karvenzmann, mit einer geschätzten Breite von 40 cm. Ganz ehrlich? Nun gut – ich schweife wieder ab.
Philippe Jaroussky hatte auch abseits der Bühne ein graziles Auftreten. Da wundert es auch nicht, dass meine Begleiterinnen sich benahmen wie Teenager bei einem Backstreet Boys Konzert. Sehr höflich verwickelte er sie in ein Gespräch. Als es ans Verabschieden ging, reichte er noch mal jedem von uns die Hand und verschwand in der Nacht. Ich war geplättet. Nicht allein von seiner einnehmenden Persönlichkeit, sondern von seinen weichen Händen. Ich habe noch nie in meinem Leben weichere Hände geschüttelt. Es war… äh… keine Ahnung, wie ich es beschreiben soll… es war kein schlaffer Handschlag. In meinem Verwandtenkreis gibt es Leute mit einem Handschlag, der sich anfühlt wie ein lauwarmer nasser Waschlappen. Dieser Handschlag war nicht so, er war fest und doch weich… Vermutlich wird dieser eine Handschlag mich bis an mein Lebensende verwirren, deshalb ergebe ich mich in mein Schicksal und schreibe einfach weiter.
Völlig durchfroren, ausgehungert und verwirrt schleppten wir uns in unsere Zimmer. Ich entkleidete mich und schmiss mich auf das Bett. Noch ein wenig aufgewühlt vom erlebten Spektakel (die OPER!) zappte ich noch im Fernsehprogramm herum. Ich blieb bei Oliver Stone’s JFK hängen. Ich sah es mir bis zu meiner Lieblingsstelle an, wo Donald Sutherland Kevin Costner auf einer Bank… wisst ihr was? Schaut euch den Film einfach mal an, es lohnt sich.
Ich schlief endlich ein. In meinem Traum verarbeitete ich das Gesehene. Croissants, die mit Schwertern hantierten kämpften mit Töpfen, die im Kerker saßen um die Vorherrschaft. Dann ein harter Schnitt, ich lag auf einem Sofa, eine wunderschöne Frau kam herein und flüsterte mir etwas ins Ohr. Sie führte mich durch einen Wald. Wir kamen an eine Lichtung, wo ein Fest im vollen Gange war. Eine Arie wurde gesungen. Ich feierte und war glücklich. Am Tisch saßen bekannte Gesichter, die ich nicht zuordnen konnte. Die wunderschöne Frau gab mir einen Kuss, Schreie ertönten, alles löste sich in Bruchteilen von Sekunden auf.
Ich erwachte panisch aus diesem Traum. Verwirrt und verschwitzt stolperte ich durch das Hotelzimmer. Ich zog das T-Shirt aus und öffnete das Fenster. Ich atmete tief ein und entspannte mich, bis ich von der Straße unter mir ein Klatschen vernahm. Ich schaute nach unten und sah eine junge Französin, die mir applaudierte. Sie rief mir etwas zu, doch das war mir in diesem Moment völlig egal. In Windeseile schloss ich das Fenster wieder und zog die Vorhänge zu. Manchmal sollte man sich erst im Klaren sein, wo man sich befindet, bevor man irgendein Fenster öffnet.
Ich machte mich für das Frühstück fertig und beschloss, sowohl meinen Traum als auch das zuvor Erlebte für mich zu behalten. (Äh… ja.) Noch etwas benommen schlurfte ich in den Empfangsbereich und gönnte mir noch eine Zigarette.
Endlich am Frühstücksbuffet angekommen, machte ich mich über die Leckereien her. Im Laufe meines Gelages kamen auch meine verschlafenen Begleiterinnen zum Frühstück. Während wir uns die Brötchen ins Gesicht schoben, fragte Biri plötzlich, ob wir in der Nacht auch den Gesang gehört hätten.
Ich bejahte das, dachte allerdings, ich hätte dies nur geträumt. Es waren wahrscheinlich die angetrunkenen Überbleibsel der Premierenfeier. In meinem Kopf spielten sich wilde Fantasien über Wersänger ab. Die durch die dunklen Gassen wandern und ahnungslosen Opfern ein Ständchen singen.
Nachdem das Frühstück beendet war (es gab nichts mehr), checkten wir aus und fuhren gen Heimat.
Die Heimfahrt war entspannt; genau wie bei der Hinfahrt war der französische Teil unserer Reiseroute erholsamer als die Nacht im Hotel. Ab der deutschen Grenze ging der Ernst des Straßenverkehrs wieder los.
Ich setzte meine Begleiterinnen in Stuttgart ab und fuhr nach Hause.
Abschließend möchte ich ein kleines Resümee ziehen:
Dieses Opern-Erlebnis hat mich keineswegs abgeschreckt, auch wenn die dortigen Gepflogenheiten sich doch ziemlich drastisch von Rockkonzerten unterscheiden. Nichtsdestotrotz würde ich es wieder tun. Die Atmosphäre, die Musik, der Gesang, die Kostüme, das alles hat seine ganz eigene Faszination. Ich glaube allerdings nicht, dass ich mich auf irgendeine Form von Oper beschränken werde. Ich bin und bleibe ein musikalischer Grenzgänger: Klassik, Pop, Jazz, Rock, Blues, Metal, Electro? Scheiß drauf, Hauptsache es gefällt.